Ein neues Kapitel - Russland Teil 1
Da das öffentliche Verkehrsnetz in Lappland recht mager ist, versuchen wir unser Glück erneut beim Trampen. Leider ist die Landstraße bei Muonio wie zu erwarten war nicht gerade viel frequentiert und die wenigen Autofahrer die hier vorbei kommen, winken uns entweder freundlich zu, oder versuchen uns im 3 Sekunden Zeitfenster schnell pantomimisch verstehen zu geben, dass sie nur auf dem Heimweg zu den umliegenden Siedlungen sind. Wir geben aber nicht so schnell auf und schließlich hält tatsächlich ein Auto an. Das kleine Vehikel ist zwar bereits bis obenhin voll mit Gepäck, aber die nette ältere Dame will uns trotzdem mitnehmen. Nach kurzem Tetris mit Rucksäcken, Einkäufen und Trampern sitzen wir gut einsortiert im Auto und freuen uns über eine so nette und unterhaltsame Fahrerin. Sie nimmt uns ganze 400 Kilometer bis zur nächsten Großen Stadt namens Oulu mit und wir werden sogar bis zu einem Campingplatz am Stadtstrand kutschiert. Dort verbringen wir dann auch den nächsten Tag um unsere weitere Fahrt nach Russland zu organisieren. Unser Visum läuft bereits seit dem 27. September und es ist mittlerweile schon Anfang Oktober. Skandinavien war die Verzögerung allemal wert! Trotzdem wollen wir nun keine Zeit mehr verlieren - Russland ist groß und bis zum 26. Oktober müssen wir das Land wieder verlassen haben (mit den russischen Behörden wollen wir uns es wirklich nicht verscherzen). Also entscheiden wir uns dafür, direkt bis St. Petersburg durchzufahren um etwas Zeit aufzuholen.
Zwei Busse und ungefähr 18 Stunden später kommen wir am frühen Morgen (genauer gesagt 5:30 Uhr) in einem Außenbezirk von St. Petersburg an. Es ist dunkel und wir sind müde. Der Bus hält direkt vor einer Metro-Station, an einer mehrspurigen Hauptverkehrsstraße auf der vor allem klapprige LKW und Transporter an uns vorbei rauschen. Alles wirkt etwas heruntergekommen. Die leuchtenden Ziffern der Preistafel einer angrenzenden Tankstelle mischen sich mit dem Orange der Straßenbeleuchtung und tauchen die kalte Luft in schwere Farben. Ein alter Mann kommt auf uns zu und will uns mit den Worte "Taxi? Taxi?" in seinen privaten PKW locken. Neben uns streiten sich lautstark zwei allem Anschein nach betrunkene Damen. Wir sind nun definitiv in Russland.
Keine Ahnung wie das hier so läuft mit der Metro. Direkt nach der großen Drehtür stehen ernste Polizisten und durchleuchten das Gepäck jeder Person, die die große Eingangshalle betreten möchte. Ob wir hier mit unserem üppigen Kamera-Equipment inklusive Drohne, mehrerer Passwortgeschützter Festplatten und Laptop überhaupt durchkommen? Man kommt hier durch die Berichterstattung über die Putinsche Regierung doch relativ vorbelastet an. Auch wenn wir jedesmal versuchen, den gängigen Klischees des jeweiligen Landes nicht auf den Leim zu gehen. Ungewollt stellen sich jedoch Bilder von einem schummrig beleuchteten Raum ein, in dem wir im strengen Einzelverhör befragt werden, was wir hier mit soviel technischem Aufnahmegerät denn vorhaben. Also machen wir uns zu Fuß auf den Weg zu unserem Guesthouse. Leider haben wir vergessen vorher mit den Besitzern Kontakt aufzunehmen und haben keine Ahnung ob so früh überhaupt jemand anzutreffen ist. Nach 3 Kilometern Fußmarsch durch dämmrige Gassen, vorbei an rostigen Soviet-Karroserien und vergitterten Fenstern kommen wir mitten im Stadtzentrum bei der Adresse an. Allerdings finden wir nirgends ein Schild, eine Klingel oder sonstige Hinweise darauf, hinter welcher der vielen Türen sich das Guesthouse befinden soll. Auch der nette Security-Mann der uns im riesigen Innenhof des Gebäudekomplexes zielsicher als Touristen identifiziert, scheint das gesuchte Guesthouse nicht zu kennen und bringt uns stattdessen zu einem anderen Hotel. Nett gemeint, aber wir haben ja bereits etwas anderes gebucht. Das übernächtigte Mädel an der Rezeption versucht uns dennoch zu helfen und ruft bei unserem Guesthouse an. Allerdings nimmt da niemand ab. Okay, es ist erst kurz nach 7 und wahrscheinlich ist hier erst später jemand zu erreichen. Also beschließen wir, ein Café zu suchen und uns dort die Zeit zu vertreiben. Wir landen in der British Bakery um die Ecke und lassen uns in das große, alte Sofa fallen. Mit Kaffee und Gebäck steigt unsere Laune und wir lenken uns mit Internetkram und Fotobearbeitung ab. Dennoch kommt die Müdigkeit immer wieder durch, wir sind erst gegen 2 Uhr über russischen Grenze gefahren und ich habe die Nacht kein Auge zu gemacht. Der Bus war nicht schlecht, wir hatten sogar an jedem Platz einen eigenen Bildschirm mit Filmen und Spielen wie im Flugzeug. Vielleicht war das der Grund, warum ich nicht geschlafen habe, im Flugzeug klappt das bei mir auch nie. Uns fallen jedenfalls in regelmäßigen Zeitabständen die Augen zu und ich döse mehrere male Weg und schrecke wieder auf. Am liebsten würde ich mich auf das Sofa legen aber Tobi hält mich davon ab - wäre dann wohl doch zu viel des Guten.
Wir erreichen leider immer noch niemanden beim Guesthouse und haben mittlerweile rausgefunden, dass erst um 14:00 Uhr Check-In ist. Ich versuche dennoch mein Glück und schreibe nochmal eine nette Nachricht an die Besitzerin, ob ein etwas früherer Check-In möglich wäre. Die Antwort fällt knapp und ziemlich unfreundlich aus: „No, Check-In is at 3 o'clock“. Also verbringen wir am Ende fast 7 Stunden in der British Bakery und sind so dankbar für das liebe Personal, dass uns so lange ausgehalten hat! Übermüdet und nach der Warterei und der letzten Nachricht nicht gerade positiv gestimmt kommen wir um 3 zum Guesthouse. Die Besitzerin begrüßt uns genauso redselig und sympathisch wie ihre Nachrichten zuvor und wir sind froh als wir die Zimmertür hinter uns schließen und ins Bett fallen können. Es folgt ein mehrere Stunden anhaltender, komatöser Tiefschlaf. Als wir wach werden ist es bereits dunkel und der Magen knurrt. So richtig wohl fühlen wir uns in unserem Zimmer nicht. Es liegt ein seltsam stechender Geruch in der Luft der aus dem Teppich zu strömen scheint und besonders sauber sieht es auch nicht aus. Also gehen wir uns erstmal Wein und Essen besorgen um die Stimmung zu heben. Dies gelingt auch sofort nachdem wir draußen sind. Die Gegend in der wir wohnen ist super zentral und in wenigen Minuten sind wir umgeben von Bars, Restaurants und kleinen spezialisierten Geschäften. Es herrscht eine angenehme Atmosphäre und wir bewundern das nun doch sehr andere Sortiment an Lebensmitteln im kleinen russischen Supermarkt um die Ecke.
Als wir es uns später im Bett bei einem Film und Wein gemütlich machen wollen, kracht die Pressspanplatte auf Tobis Seite zusammen, die wohl als Lattenrost fungieren sollte (wer Tobi kennt, weiß dass es nicht an seiner Statur liegen kann). Was für ein Start in Russland! Wir reparieren das Bett notdürftig mit dem kleine Mülleimer unseres Zimmers und stoßen amüsiert auf unseren etwas verkorksten Tag in St. Petersburg an. Am nächsten Tag dürfen wir auf Nachdruck in ein anderes Zimmer wechseln und das hat keinen seltsamen Geruch, ist sauber und viel gemütlicher. Wir fühlen uns gleich viel wohler im Guesthouse und stellen fest, dass wir die Wohnung für die nächsten Tage ganz für uns alleine haben- auch nicht schlecht.
Nach der seltsamen Grundstimmung des ersten Tages in Russland zieht die 5 Millionen Einwohner Metropole nach und zeigt sich nun von seiner besten Seite - es ist eine wunderschöne Stadt! Egal wo man sich hin verirrt, überall sind traumhafte Fasaden, Kirchen, Parks und Museen zu bestaunen. Ein absolutes Freilichtmuseum des Klassizismus, Historismus und Jugendstils. Wir sind aber nicht gerade in Sightseeing Stimmung - deshalb verbringen wir unsere Tage am liebsten in den vielen kleinen Cafés und Bars. Es gibt so viele individuelle und kreativ eingerichtete Pubs, dass wir nicht anders können als St. Petersburg in unserer eigenen Pub-Tour zu erkunden. Das Wetter ist wechselhaft und das Bier süffig. Wir genießen unsere Tage total und versuchen uns mit den einheimischen kulinarischen Spezialitäten vertraut zu machen. Dill ist eine wiederkehrende Zutat und verträgt sich ungemein gut mit Pommes und einem kühlen Pils. Pelmini, die landestypischen Klöse (stellt euch eine Mischung aus Maultaschen und Ravioli vor) gibt es hier in allen Formen und Füllungen. Auch Vegetariern wird in der russischen Küche einiges geboten. Und auch wenn Käse eigentlich eine Besonderheit auf unserem Speisezettel ist, verlieben wir uns etwas in den Chechil, der hier oft als Snack zu Bier gegessen wird. Ein kräftiger, etwas zäher Räucherkäse, der in in langen Bändern in einem Block verflochten wird. Er erinnert durch das kräftige Aroma und die Konsistenz etwas an den Schwarzwälder Schinken, den Tobi als Kind in dünnen Scheiben von seinem Großvater zum probieren bekommen hat. Auch lernen wir hier zum ersten mal die georgische Küche kennen. Wie bei uns die Italiener, haben in Russland viele Georgier ihren kulinarischen Einfluss mit ins Land gebracht und in jedem viertel kann man mehrere Kneipen, Bars und Restaurants mit den landestypischen Spezialitäten finden.
Wir können St. Petersburg jedenfalls nur empfehlen, die Stadt ist super cool und wunderschön. Es ist für jeden etwas dabei - egal ob Sightseeing, gemütliches Stadtbummeln oder Party - und durch die Nähe zu Europa ergibt sich eine tolle Vielfalt an kulturellen Einflüssen in der viertgrößten Stadt Europas. Und nach der kurzen Eingewöhnungszeit ins russische Setting fühlten wir uns auch sehr sicher, obwohl wir schon lange vor dem Grenzübertritt gewarnt wurden, vor den gefährlichen Russen. Selbst Russen, haben uns vor den Russen gewarnt ;) Im Grunde verhält es sich aber wie in jeder großen Metropole der Welt. Überall sind Taschendiebe und andere zwielichtige Typen zu finden, die sich vor allem auf das leichte Opfer Tourist spezialisiert haben. Von dieser Gruppe sollte man aber nicht auf die gesamte Bevölkerung eines Landes schließen. Kriminalität hängt hier oft mit Armut zusammen und ist nun wirklich ein internationales Phänomen. Wir sind oft bis spät in die Nacht durch die Straßen gestreunt, haben gut sichtbar für jeden mit der großen DSLR fotografiert und gefilmt, waren aber dann auch immer sehr aufmerksam unserem Umfeld gegenüber. Wenn sich jemand dann auffällig verhalten hat (das ist uns in ganz Russland nur einmal passiert), haben wir die Kamera sicher verstaut und sind in belebtere Straßen abgebogen. Nie ist jemand unverschämt, aufdringlich oder gar tätlich geworden. Was uns aber relativ schnell auffällt: es sprechen plötzlich deutlich weniger Menschen englisch, eigentlich treffen wir kaum jemanden in den 4 Tagen der eine Zweitsprache spricht und so steigen wir um auf Google Translate, Zeichensprache und die absoluten Basics die wir aus einem Russisch-für-Anfänger-Potcast haben : Zdravstvujte! Doswidanja! Spasiba!
Nach ein paar netten Tagen Eingewöhnung in Russlands Outdoor-Museum St. Petersburg nehmen wir endlich den Nachtzug nach Moskau - der erste Teil unserer Transmongolischen Eisenbahnfahrt beginnt...