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Von Europa nach Asien in 26 Stunden - Russland Teil 3

Wir checken aus unserem Hostel aus und starten unseren halbstündigen Fußmarsch zur Metro. Während wir mit vollem Gepäck einen interessanten Hinterhof fotografieren, spricht uns plötzlich eine ältere Dame an, sie gestikuliert viel und ist sehr mitteilsam. Leider verstehen wir kein Wort, denn sie spricht natürlich nur russisch. Was wir aus ihrem Monolog glauben zu verstehen:  Anscheinend gibt es um die Ecke einen bekannten Sänger zu sehen?! Um sich zu verdeutlichen, zieht sie uns mit in eines der umliegenden Gebäude und zeigt aus dem Fenster. Mit Hilfe des Google Translators macht sie uns klar, dass das ganze Gelände um uns herum der deutschen Firma Singer gehört hat und in den alten Fabrikgebäuden früher bestes deutsches Nähwerk hergestellt wurde. Es macht den Anschein, als ob die Dame uns auch noch zu sich nach Hause zum Tee einladen möchte, doch wir müssen uns sputen und verabschieden uns im dunklen Treppenhaus eines ehemaligen Mitarbeiterwohnhauses. Eine weitere, freundliche Begegnung in Russlands Hauptstadt.
Eigentlich wollten wir unser Gepäck im Bahnhof verstauen und dann für ein bis zwei Stunden in die Stadt gehen. Nachdem wir alle Gepäckaufbewahrungsräume und Schließfächer abgeklappert haben entscheiden wir uns aber dann doch dagegen: 12 Euro für 3 Stunden ist uns zu teuer (es gibt nur eine Tagesrate). Also machen wir es uns im Aufenthaltsbereich bequem und wir investieren das „gesparte Geld“ in Nahrungsmittel. Nach einer Stunde irrwegreicher Suche finde ich endlich den eigentlich nur 5 Minuten entfernten Supermarkt… Immerhin sind wir nun für die nächsten 1 1/2 Tage Zugfahrt bestens gerüstet: Brot, Ramen-Nudeln, der gute Chechil (russischer Räucherkäse), Kartoffelbrei, Chips, Schokolade, Obst, Gemüse - wir werden auf keinen Fall verhungern ;) Nach 2 1/2 Stunden sehen wir endlich unseren Zug und das zugehörige Gleis auf der Anzeigetafel aufblitzen. Schnell machen wir uns auf den Weg zum Gleis und nehmen diesmal die Isomatten in weiser Voraussicht schon vom Rucksack bevor wir in den Zug einsteigen.

Die Sitzbank im 3. Klasse Abteil. Falls ihr zu zweit unterwegs seid, bucht einen Platz unten und einen direkt darüber. Somit könnt ihr euch die untere Bank tagsüber teilen, andernfalls sitzt ein anderer Mitreisender ständig auf eurem Bett ;)

Diesmal haben wir uns Plätze auf der Vierergangseite gesichert und das Gepäck ist schnell verstaut. Uns gegenüber sitzen eine ältere Dame mit feuerroten Haaren und ein junger Kerl mit Glatze. Ich grinse die Beiden an und zurück bekomme ich einen kritischen Blick der Dame und relative Gleichgültigkeit des Typen. Unsicher wie ich darauf reagieren soll nicke ich freundlich und setze mich hin. Tobi lässt sich neben mich fallen und der Zug schnaubt schwerfällig, als wir aus dem Moskauer Bahnhof ausfahren. Es ist mittlerweile früher Abend. Wir haben 26 Stunden 3. Klasse Abteil vor uns. Ziel ist unser erster Halt im kontinentalen Asien: Jekaterinburg.
Nach etwa einer Stunde stiller Fahrt versuchen wir einen Neustart mit unseren Sitznachbarn und bieten ihnen von unseren Trauben an. Wenn freundliches, wenn doch etwas debil wirkendes Dauerlächeln nichts nützt bei der interkulturellen Verständigung, hilft vielleicht die gute Alte Bestechung. Die kritische Dame ist erst unsicher, nimmt sich dann aber doch einige Trauben und bedankt sich. Das Eis ist gebrochen: Tobi holt sein Handy mit der Google Translator App raus (wir sollten eigentlich Geld verlangen, so oft wie wir die Übersetzer App anpreisen) und fängt ein Gespräch mit der Dame an. Man fragt woher wir kommen und wohin die Reise geht und alle im unmittelbaren Umfeld werden langsam warm miteinander. Da streckt plötzlich Anna ihren Kopf in unser Compartment. Anna kommt aus Chita und kann ein paar Worte Deutsch: „Ich liebe Deutschland!“ sagt sie mir mit einem breiten Grinsen. Sie erklärt uns, dass sie gerade erst in unserer Heimat zu Besuch war und vielleicht irgendwann nach Deutschland auswandern möchte. Anna ist lebensfroh und begeistert von uns, einfach weil wir aus dem Land kommen, das sie so schön findet. Mit großer Sehnsucht zeigt sie uns Handy-Fotos von Düsseldorf, Kassel und irgendwelchen bayrischen Dörfern. Wir führen Gespräche über verschiedene Mentalitäten verschiedener Länder und positives Denken. Auch unsere ältere Sitznachbarin taut auf und wirkt nun gar nicht mehr so kritisch - die Stimmung lockert sich zunehmend. Ansonsten besteht die Zugfahrt hauptsächlich aus schlafen, aus dem Fenster schauen, Essen machen, Tee machen, Filme auf dem Tablet schauen und ab und zu ein paar Worte mit Anna und den anderen Fahrgästen austauschen. Der Zug hält immer wieder an und wir schnappen bei einem längeren Aufenthalt am Abend frische Luft auf einem kalten Bahnsteig im Nirgendwo. Der Zug dampft (kein Wunder, so warm wie es da drin und wie kalt es hier draußen ist) und die Fahrgäste versuchen sich schnell die Beine zu vertreten. An einem winzigen Kiosk direkt am Gleis, kann man zwischen zuckersüßen Limonaden und Porzellan-Kitsch wählen. Es ist bereits Dunkel und die Luft durchzieht der Geruch von Kaminfeuer und Diesel. Das ländliche Russland wirkt in diesem Moment sehr trostlos und wir spüren die vielbesagte Melancholie der Landsleute in dieser nächtlichen Einöde. Die Männer rauchen still ihre Zigaretten, irgendwo bellt ein alter Hund und nur das kalte Neonlicht der Laternen erhellt den heruntergekommenen Bahnsteig. Die Szenerie wirkt eigenartig pittoresk - wie ein Bild eines Straßenmalers, der die Schönheit des Alltags auf die Leinwand zu bringen vermag.

Nirgendwo in Russland

Da wir jedoch nicht genau wissen wie lange der Zug hält und bestimmt niemand auf uns warten würde, trauen wir uns nicht, uns vom Gleis zu entfernen und steigen nach ca. 10 Minuten wieder in unseren Wagon. Schon bald darauf machen wir uns bettfertig, wünschen unseren Mitreisenden eine gute Nacht und versuchen bei holpriger, aber relativ ruhiger Fahrt einzuschlafen.

Heißes Wasser ist kostelnlos und hilft enorm beim "kochen". Klassisch gibt es im Abteil hauptsächlich 2-Minute-Noodles, wir haben es jedoch geschafft, frischere warme Malzeiten zuzubereiten, wie es sie im Essenswagon zu kaufen gibt! Rezepte folgen ;)

Früh am nächsten Morgen erwachen wir gut erholt zu einem wunderschönen Sonnenaufgang. Durch den riesigen Wasserkessel im Eingangsbereich des Abteils sind wir immer mit kochend heißem Wasser versorgt und so können wir unseren Morgen mit selbst gebrühtem Kaffee und unseren Frühstücks-Oats (ähnlich wie Bircher Müsli mit Instant Haferflocken - total praktisch fürs Reisen) beginnen. Und so tuckern wir weiter durch Russlands Landschaften, vorbei an kleinen Dörfern mit winzigen Holzhäuschen und endlos scheinenden Birkenwäldern. Auch wenn diese Art der Fortbewegung recht unspektakulär ist, hat sie doch ihren ganz eigenen Charme. Man sollte nicht mit Superlativen rechnen, wenn jemand eine äußerst lange Zugfahrt beschreibt, doch passt die Transsibirische Eisenbahn wunderbar zu unserem entschleunigten Vagabundentum. Mit geschätzten 60 kmh rollt die Lok über die Schienen, trotzdem vergeht die Zeit relativ schnell und wir kommen nachts in Jekaterinburg an. Als Anna mitbekommt dass wir aussteigen müssen, verabschiedet sie sich voller Wehmut und drückt uns beide fest. Sie sagt sie hat sich nun entschieden - sie will versuchen in Deutschland zu leben. Und auch unsere zu Beginn so skeptische Sitznachbarin zieht mich fest an sich und gibt mir einen Schmatzer auf die Wange. Wir klettern aus dem Wagon und freuen uns, endlich wieder ein paar Schritte laufen zu können. Nach ca. 20 Minuten Fußweg durch kleine Parks und leere Großstadtstraßen, vorbei an großen Mehrfamilienhäusern stehen wir vor einen Hochhauskomplex, der noch nicht ganz fertig gestellt scheint.
Unser Hostel stellt sich aber als Jackpot heraus: es ist total cool und gemütlich eingerichtet und wir haben einen stylischer Raum mit kleinem Balkon und Doppelbett. Da uns das Hostel so gut gefällt, beschließen wir gleich 3 Nächte in Jekaterinburg zu bleiben. Wir sind diesmal wirklich die einzigen Ausländer im Hostel, kommen aber dennoch mit einigen Leuten ins Gespräch. Die meisten sind von den Umliegenden Städtchen und Dörfern und nur zum Arbeiten in der alten Industriemetropole. Daher ist besonders Abends viel Betrieb in der Küche und im Aufenthaltsbereich, der wie ein stylisches und gemütliches Loft gestaltet ist und sich wie eine Mischung aus Café und Wohnzimmer anfühlt. Der nette Hipster an der Rezeption fragt uns verdutzt, warum wir gerade zu dieser Jahreszeit durch Russland reisen - alle Touristen sind wohl sonst im Sommer hier. Klar, es gab äußere Umstände die dafür verantwortlich sind, warum wir erst Ende August von Süddeutschland gen Skandinavien aufgebrochen sind: Fertigstellung der Masterthesis,  die Hochzeit bester Freunde, wichtiges Familienfest. Das etwas verspätete Loskommen hat sich aber gewaltig gelohnt. Wir genießen es sehr in der Nebensaison zu reisen, denn es gibt uns die Möglichkeit sehr flexibel und spontan zu reagieren. Weder Züge noch Unterkünfte sind auch einen Tag vor der Ankunft nicht ausgebucht und es ist leichter mit Einheimischen in Kontakt zu kommen. Das Verhältnis Einheimische / Backpacker ist einfach anders Ende Oktober in Russland, wie Ende Juli.  Wir können dieses Hostel jedenfalls wirklich jedem ans Herz legen der mal nach Jekaterinburg kommt (Hostel R.E.D).
Die Stadt ist interessant, nicht so pompös hergerichtet wie St. Petersburg oder Moskau, hat aber ihren ganz eigenen Charme. Es ist eine Mischung aus riesigen Soviet-Wohnkomplexen, heruntergekommenen Fabrikbauten, Wolkenkratzern mit polierten Glasfassaden und einigen Straßenzügen voller Jugendstil Architektur. Eine wilde Mischung aus verschiedenen Baustilen und arm/reich/schön/hässlich. Früher hieß die Stadt noch Swerdlowsk und war bis 1991 noch verbotene Zone für Ausländer, da hier die russische Waffenindustrie produziert hat. Bis heute sind einige Gebiete um die Stadt unzugänglich für Touristen. Wir fühlen uns trotzdem sehr wohl und gehen sogar in kaltem, morgendlichem Sonnenschein joggen (wer uns kennt weiß, dass wir das nicht gerade häufig tun ;). Die Bewegung tut gut nach dem Sitzmarathon der letzten Tage und es ist eine wundervolle Art sich in einer fremden Stadt heimisch zu fühlen. Leider merken wir, dass wir diese Art der Fortbewegung viel zu selten nutzen: mein Knie macht mir am nächsten Tag heftig Probleme und Tobi hat sich eine Erkältung zugezogen - so viel zum Thema Sport! ¯\_(ツ)_/¯


Auf Erkundungstour durchs Hostel stoßen wir an der Rezeption auf Visitenkarten einer Microbrauerei - genau das Richtige um den Tag ausklingen zu lassen. Im Jaws Spot findet man eine unglaubliche Auswahl an Bieren aus aller Welt, sowie regionale Sorten. Wir probieren aber natürlich eines der selbstgebrauten Craftbiere und da es günstig und süffig ist, danach natürlich noch eine andere Sorte. Hier hängen wie in allen Microbreweries der Welt die Hipster der Stadt ab. Es ist eine angenehme Stimmung, das Personal ist sympathisch und auch beim Draht Beer ist für jeden Geschmack etwas dabei.
 Die Zeit vergeht wieder einmal wie im Fluge und bevor wir uns nach 3 gemütlichen Tagen in Jekaterinburg Abends in den Zug setzen, beschließen wir nochmal richtig Essen zu gehen: Wir landen in einem kleinen georgischen Restaurant (Khachapuri Dlya Pushkina) und es ist unglaublich lecker! Eine weitere Version der Käseschiffchen Khachapuri, die Grundzutaten sind immer gleich: Brot, Käse, Holzofen. Dazu gibt es Tee aus georgischen Bergkräutern. Georgien ist definitiv ein Land, das auf unserer Bucket-List immer weiter nach oben rutscht.

Einfaches Essen aus hochwertigen Zutaten macht uns immer besonders Freude ;)

Um 22 Uhr machen wir uns wieder auf den Weg zum Bahnhof. Der nächste Abschnitt führt uns bis Irkutsk am Baikalsee - weitere 58 Stunden Zugfahrt liegen vor uns und zum ersten mal fühlt es sich wirklich nach der echten Transmongolischen Erfahrung an...