EatThisWorld

View Original

Eine mongolische Liebesgeschichte.


Zurück in Ulan Bator fühlen wir uns, als ob wir wieder nach Hause kommen. Wir wissen wie das Öffentliche Verkehrssystem funktioniert, wo das Guesthouse ist, wo wir einkaufen können und welche Restaurants das beste und günstigste vegetarische Essen servieren. Diese Vertrautheit genügt vollkommen, um ein Heimatgefühl zu triggern. Wir haben wieder ein kleines Doppelzimmer im Hostel und lernen am ersten Abend Aiden kennen: er ist Australier, studiert Medizin und macht gerade ein Praktikum im lokalen Krankenhaus. Mit einem riesigen Grinsen auf dem Gesicht empfängt er uns in der winzigen Hostelküche und wir freuen uns auf den üblichen abendlichen Austausch unter Reisenden. Tags darauf trifft dann Ivan ein. Wie mein Cousin Michael ist Ivan mit dem Fahrrad unterwegs durch die Weltgeschichte. Allerdings wird es bei -22 Grad in der Mongolei langsam zu kalt zum weiterfahren und so plant er sein Fahrrad über den Winter in Ulan Bator einzulagern und die Feiertage mit der Familie in Bulgarien zu verbringen. Wir lernen Ivan und Aidan in den nächsten Tagen besser kennen und Sie erhalten beide einen festen Platz in unseren Herzen. Solche Begegnungen sind unbezahlbar, da sitzt man mit wildfremden Menschen in einer kleinen Küche am anderen Ende der Welt zusammen und man wird das Gefühl nicht los Freunden aus Jugendzeiten gegenüber zu sitzen. 

Eigentlich ist unser Plan den Zug nach China in 3 Tagen zu erwischen, allerdings verändert dann eine unvorhergesehene Begegnung alles:
Am zweiten Abend zurück in Ulan Bator sitzen wir in unserem kleinen Zimmer und sind gerade dabei einen Blogpost hochzuladen. Es ist bereits 23:30 Uhr und im Hostel ist schon längst Ruhe eingekehrt. Plötzlich hören wir einen lauten Schrei von einem Tier und danach Gewinsel. Wir schauen uns an und bleiben ganz ruhig sitzen. Nach etwa 3 Minuten wird das Winseln wieder lauter und wir schauen nun aus dem Fenster was da draußen los ist. Es herrscht wieder vollkommene Stille und es ist niemand auf der Straße zu sehen. Vielleicht wurde ein Hund vor dem kleinen Supermarkt um die Ecke angebunden und nun ist der Besitzer zurück gekommen? Wir versuchen uns mit Erklärungen zu beruhigen aber das ungute Gefühl, dass da etwas nicht stimmt bleibt. Nachdem das jämmerliche Weinen und Winseln eine halbe Stunde später (diesmal scheint es noch näher zu sein) wieder anfängt können wir nicht anders: wir müssen nachsehen was da los ist! Wir schleichen uns aus dem Hostel und ich ziehe mir beim runter gehen die Jacke über: da entdecke ich schon den Ursprung des Spektakels. Auf den unteren Treppenstufen im 2. Stock sitzt zusammengekauert ein kleiner Welpe. Er weint jämmerlich und sieht extrem mitgenommen aus: das rechte Auge ist verklebt, das Fell total verdreckt, an der linken Pfote ist vertrocknetes Blut zu erkennen und unterm Auge ragt eine riesige Beule hervor.
Irgendjemand muss das kleine Wollknäuel in den Hausflur gelassen haben nachdem es auf der Straße so viel Lärm gemacht hat. Immerhin sind draußen -22 Grad! Ein Stockwerk tiefer entdecken wir ein aufgeschnittenen Getränkekarton mit einem übel riechendem Gemisch, wahrscheinlich soll das etwas zu Fressen für den hilflosen Hund sein. Weiter ging die Tierliebe dann scheinbar aber nicht. Wer auch immer den kleinen Welpen von der Straße reingelassen hat: offensichtlich wusste die Person nicht was sie weiter tun soll. Hunde haben in der Mongolei einen sehr seltsamen Stand. Zwar sind sie auf dem Dorf und bei den Nomaden als Nutztiere hoch angesehen, eine emotionale Beziehung zwischen Mensch und Hund besteht in der Regel aber nicht. In der Stadt halten sich die reicheren Mongolen manchmal Rassehunde. Den Status der Strassenhunde wie diese kleine Motte, kann man höchstens mit dem der Ratte in Deutschland vergleichen: die meisten Menschen ekeln sich davor und die Idee, so eine Kreatur als Haustier zu halten ist mehr als abwegig für sie. Sie sind auch lästig für die Stadt und die wenigen zähen Tiere die den erbarmungslosen Winter überstehen, müssen im Frühling die von der Stadt engagierten Jäger fürchten, die für jeden erschossenen Hund ein paar Tughrik bekommen. Als wir uns neben das Häufchen Elend setzen und es anfangen zu streicheln hört sie sofort auf zu weinen und schläft ziemlich schnell ein. Für uns ist klar, hier können wir sie nicht lassen! Tobi macht sich draußen auf die Suche nach einem Karton und wird tatsächlich nach wenigen Minuten fündig. Leise schleichen wir mit dem Karton und dem kleinen Hund auf dem Arm zurück ins Hostel und richten eine Art Bett aus Handtüchern und Klopapier ein.

Es ist mittlerweile halb 2 morgens. Wir geben der kleinen erstmal etwas Wasser welches in hastigen Schlücken getrunken wird und nachdem wir uns bei unserer Freundin und Hundeexpertin Lisa in Deutschland per WhatsApp informiert haben, bieten wir ihr außerdem etwas aufgeweichtes Brot an. Sie probiert ein bisschen, scheint aber zu erschöpft um wirklich essen zu können. Immer wieder legt sie sich hin und nickt dann für ein paar Minuten weg. Irgendwann versuchen auch wir etwas zu schlafen, aber das Hündchen hält uns fast die ganze Nacht wach. Man merkt dass es ihr nicht gut geht. Sie schnauft seltsam und in ihrem Magen scheint es heftig zu rumoren (kein Wunder wenn sie von der seltsamen Fettmischung im Hausflur gegessen hat). Ich schreibe noch Nachts über Facebook eine in der Mongolei stationierte, ehrenamtliche Tierschutzorganisation an und frage was wir mit dem kleinen Welpen anstellen sollen. Am nächsten Tag gestehen wir Eiggy, der Besitzerin des Guesthouse, dass wir den kleinen Hund ins Zimmer geholt haben.

Sie ist verständnisvoll und ist damit einverstanden, solange wir versuchen, schnellstmöglich eine andere Lösung zu finden. Zum Glück meldet sich kurze Zeit später Khalinuaa von „Lucky Paws“ auf meine Nachricht. Sie erklärt uns, dass sie selbst keine Möglichkeiten haben Tiere aufzunehmen da die Organisation nur aus einer Handvoll ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen besteht. In der ganzen Mongolei gibt es kein einziges Tierheim. Sie schickt uns aber zu einer Tierklinik und bittet eindringlich darum, den Hund nur in diese Arztpraxis zu bringen. Außerdem verspricht sie, sich nach jemanden umzuhören der sich um den Welpen kümmern kann.

Wir packen den Hund also in Tobis Rucksack und fahren zur angegebenen Adresse. Im geöffneten Rucksack ist es ruhig und man hört ein leises schnarchen. Allerdings steigen immer wieder kleine Wölkchen Hundepups aus dem Rucksack, die seltsam ungesund riechen. Der Taxifahrer tut uns da auch etwas Leid, aber da müssen wir jetzt alle durch. Als wir an der Tierarztpraxis ankommen sind wir erleichtert, dass sowohl die Arzthelferin als auch die Tierärztin englisch sprechen. Gerade als wir den kleinen Hund aus dem Rucksack heben wollen, muss dieser sich übergeben und es landet Erbrochenes sowohl auf dem Untersuchungstisch als auch im Rucksack. Die arme Maus scheint irgendetwas ganz seltsames gegessen zu haben. Wenn sie tatsächlich auf der Straße zur Welt kam, war es wahrscheinlich Müll. Nach einer kurzen Untersuchung erklärt uns die Ärztin, dass das Hauptproblem Die Dehydrierung und das geringe Gewicht ist. Ihr Alter liegt etwa bei ca. 2 1/2 Monaten. Die Beule unter dem Auge schätzt sie als harmlos ein, aber ihr Gesamtzustand ist kritisch. Sie wird auf Tollwut und Parvovirus untersucht. Beide Tests fallen zunächst negativ aus. Somit steht einer weiteren Behandlung nichts im Wege, sollten wir dazu bereit sein. Natürlich stimmen wir zu und so bekommt die Kleine erstmal eine Schale Futter serviert. Auf einmal kehrt Leben in dieses kleine Geschöpf zurück: der Welpe stürzt sich wedelnd auf die Schale und schlingt die fleischigen Bröckchen Welpenfutter gierig herunter. Für Trockenfutter ist sie hingegen nicht zu begeistern. Wir besprechen mit der Ärztin die nächsten Schritte: der Welpe wird für 5 Tage in der Klinik bleiben und aufgepäppelt. Erst danach lässt sich sagen, ob die Kleine es schaffen wird. Bis dahin müssen wir überlegen was wir wollen. Sollen wir diese süße Maus adoptieren? Oder versuchen ein Zuhause hier in der Mongolei für sie zu finden? Neben der Unsicherheit wie unsere Reise mit einem Hund weiter gehen soll haben wir noch ein weiteres Problem: unser Visum für die Mongolei läuft in einer Woche aus und wir haben bereits einem Housesitting Job in Südkorea zugesagt.
Wir besprechen das alles noch einmal mit den Ehrenamtlichen von Lucky Paws. Sie erklären, es wird sehr schwierig für eine weibliche Straßenhündin ein dauerhaftes zu Hause zu finden. Die Logik der Mongolen: die Weibchen bekommen die Jungen und sind somit verantwortlich für Ulan Bators Straßenhundeproblematik. Selbst wenn sich also ein „Zuhause“ finden lässt, besteht dies höchstwahrscheinlich aus einer kurzen Kette hinter einem Zauntor. Der Hund ist dann nicht mehr als eine Alarmanlage.

Auf dem Heimweg kreisen unsere Gedanken ausschließlich um diese Themen und unsere Köpfe fühlen sich schwindelig an. Im Nachhinein wissen wir, dass wir bereits in der Nacht in unserem kleinen Hostelzimmer unser Herz an sie verloren haben. Die Diskussion darüber, ob wir sie adoptieren sollen oder nicht ist nur der Versuch, unsere Situation rational zu betrachten: in Wahrheit wussten wir zu diesem Zeitpunkt bereits dass wir sie nicht einfach hier lassen können.
Zurück im Hostel sind wir erschöpft, beide haben wir nur sehr wenig geschlafen und die ganzen Eindrücke, Informationen und Entscheidungen erdrücken uns. Wir dösen weg und werden unsanft vom Handyklingeln geweckt. Draußen ist es bereits dunkel und unsere Glieder sind schwer. Müde nimmt Tobi den Anruf entgegen und ist plötzlich hell wach. Die Tierärztin erklärt, dass der Parvovirustest nun doch positiv ausgefallen ist. Es dauerte einige Zeit, bis sich das Teststäbchen verfärbt hatte - anscheinend frühes Stadium der Erkrankung. Der Parvovirus kann für Hunde tödlich sein, besonders ältere Hunde und Welpen sind dabei gefährdet. Zudem ist die Kleine immer noch sehr schwach und dehydriert. Es gibt keine Medikamente gegen den Virus, es lassen sich nur die Symptome bekämpfen und dann muss sich zeigen, ob das Immunsystem stark genug ist um den Virus besiegen zu können. Wir sollen uns am Telefon entscheiden, ob wir die Behandlung beginnen (und bezahlen) wollen, oder die Kleine muss eingeschläfert werden. Ein weiteres Mal liegt die Verantwortung und die Entscheidungskraft über ihr noch so kurzes Leben bei uns. Wir stimmen natürlich der Behandlung zu und versprechen morgen bei der Klinik vorbei zu kommen. In diesem Moment entschließen wir uns dazu, Sumo zu adoptieren, sollte sie die ganze Prozedur überleben.

Als wir 2010 Australien umrundeten, hatte Tobi eines Nachts einen Traum: wir hatten einen kleinen schwarzen Hund und sein Name war Sumo. Als Tobi mir damals von diesem Traum erzählte, haben wir sofort beschlossen unseren ersten Hund Sumo zu nennen. Wir konnten damals nicht wissen, dass wir Sumo in der Mongolei finden würden und der Name wie die Faust aufs Auge zu diesem kleinen Schwarzen Welpen passen wird.

Am nächsten Tag machen wir uns aufgeregt auf den Weg zur Klinik. Ich habe schlecht geschlafen. Zu sehr bange ich um Sumos gesundheitlichen Zustand. Doch als wir in der Klinik ankommen, empfängt uns eine aufgeweckte Hundedame. Sie hängt am Tropf und das scheint ihr sehr gut zu tun. Ihre Augen sind klar, das kleine Kringelschwänzchen wedelt und sie möchte am liebsten die ganze Zeit nur spielen.


Die Ärztin ist überzeugt, dass sie überleben wird und nur noch ein paar Tage die medizinische Behandlung benötigt. Plötzlich fühlt sich alles richtig an, wir sind sehr erleichtert. Wir haben eine Entscheidung für das Leben dieser kleinen Hündin getroffen und wir wissen, es war die Richtige! Die nächsten Tage haben nun eine feste Routine: nach dem Frühstück machen wir uns auf den Weg ans andere Ende der Stadt zu Sumo und bewundern Ihre schnelle Genesung. Wir spielen ca. eine Stunde mit dem aufgeweckten Welpen, klären die nächsten Schritte mit der Tierärztin ab und beginnen die Unterlagen für Sumos Reisepass auszufüllen. Wir starten einen Aufruf über „Lucky Paws“ mit der Bitte um Hilfe: wir müssen schon in ein paar Tagen die Mongolei verlassen und brauchen jemanden, der sich um Sumo kümmert bis wir im Januar zurück kommen. Die Tierärztin kann es immer noch nicht richtig fassen: „So lucky Puppyyyy!“ Nach einigen Tagen Suche werden wir endlich fündig und vereinbaren, Sumo gegen eine geringe Bezahlung in die Obhut einer erfahrenen Helferin der Tierschutzorganisation zu geben. Während wir weg sein werden, kümmern sich die Ehrenamtlichen um die restlichen benötigten Impfungen und die Einsetzung des Microchips. Irgendwie fügt sich langsam alles zusammen, auch wenn viele Fragen noch offen bleiben. Wir werden unsere Reiseroute ändern müssen, denn schnell stellt sich heraus dass Australien und Neuseeland nur reinrassige Hunde in ihr Land lassen. Auch lassen wir langsam den Gedanken zu, über kurz oder lang doch ein Flugzeug zu bestiegen, da einige Länder wie zum Beispiel auch China, strenge Quarantänebestimmungen für die Einreise von Haustieren haben. Doch all das ist uns egal. Wir haben uns dazu entschieden, die Verantwortung für ein Lebewesen zu übernehmen und sind uns aller Konsequenzen bewusst. Außerdem sind wir so verzaubert von Sumo, dass wir gerne unsere Reiseroute und die Art zu Reisen zu ihren Gunsten verändern. Doch diese Entscheidung ist keine Schnappsidee, wir wollten schon immer einen Hunden, spielen schon seit Jahren mit dem Gedanken einen Hund zu adoptieren. Dass dies gerade auf der Reise geschieht ist nicht geplant, aber es fühlt sich gut an! Wir können zumindest dieses eine Hundeleben retten, das ist was zählt. Auch wenn einige unserer Leser in Deutschland unsere Entscheidung nicht verstehen wollen.Ivan und Aidan fiebern mit uns mit und es tut gut ihre Unterstützung und Begeisterung zu spüren. Wir können uns bei den täglichen Besuchen immer schwerer von Sumo trennen und viel zu schnell ist der Tag gekommen, an dem wir uns bis Januar Lebewohl sagen müssen. Sumo ist besonders verspielt und wir können kaum glauben, dass dieses kleine Energiebündel noch vor ein paar Tagen halb tot in unserem Treppenhaus gekauert hat. Sie ist stark und hat einen enormen Appetit. Sie liebt es wie alle Hunde am Spielzeug zu zerren, klettert uns auf den Schoß um gestreichelt zu werden und nimmt alle Geräusche der Tierarztpraxis mit wachem Blick und gespitzten Ohren in sich auf. Am 23.11.2017 nehmen wir mit mulmigem Gefühl den Zug von Ulan Bator nach Beijing und geben Sumo für die nächsten 1 1/2 Monate in die Obhut von Lucky Paws und der SOS Vet Clinic. Der Abschied fällt uns unglaublich schwer, auch wenn wir uns natürlich auf die Weiterreise freuen. Wir lassen unsere Campingausrüstung in Ulan Bator, Januar und Februar wollen wir dann gemeinsam mit Sumo in der Mongolei verbringen. Ab Februar werden wir zu dritt weiterreisen!

 

...am 03.12.2017 bekommen wir in China die schreckliche Nachricht, dass Sumo aus unerklärlichen Gründen verstorben ist. Sie war ein paar Tage vorher bei der Tierärztin und ihr gesundheitlicher Zustand war stabil. Sie hat alle Impfungen gut vertragen und war am Tag vor ihrem Tod noch topfit. Der Parvovirus war überstanden und es gab keine Anzeichen für weitere Erkrankungen. Da wir nicht wissen was Sumo zugestoßen ist, bevor wir sie gefunden haben, vermutet die Ärztin innere Verletzungen, welche nicht festgestellt werden konnten. Uns trifft die Nachricht wie ein Schlag in den Magen. Wir sind unfassbar traurig und können unseren Verlust nicht in Worte fassen. So sehr haben wir auf unser Wiedersehen hingefiebert, täglich von ihr gesprochen und Pläne geschmiedet um die Reise zu dritt zu bestreiten. Wir haben uns in Sumo in dem Moment als wir sie auf der Treppe gefunden haben verliebt und wir werden die kleine Motte niemals vergessen.

Wir möchten uns bei Lucky Paws und der SOS Veteranyclinic Ulan Bator für die gute Betreuung und ihr unglaubliches Engagement bedanken.


Rest In Peace kleine Sumo, du hast unser Leben in dieser kurzen Zeit so sehr bereichert und wir können deinen Verlust immer noch nicht begreifen.