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Japan Teil 3 - Was hat sich Karma eigentlich bei der Nummer gedacht?!

Ein schmaler Lichtschein der Morgensonne schneidet gleißend durch das Dunkel des winzigen Zimmers. Der Kontrast ist zu hart für meine Pupillen, also schließe ich wieder die Augen und  versuche mich auf die Geräusche der Umgebung zu konzentrieren. Von draußen dringt leise das rhythmische Klopfen unzähliger Wassertropfen ins Zimmer und aus der Ferne sind gedämpft Verkehr und Vogelgezwitscher zu hören. Tobis Atem neben mir geht ruhig und gleichmäßig. Mit noch fast zugekniffenen Augen spicke ich auf das viel zu helle Display meines Handys. In 7 Minuten  wird der Wecker klingeln und die Routinen eines Reisetages einläuten. Aufstehen; Badezimmer; Instant Oats zum Frühstück; alles Hab und Gut erneut in den Rucksäcken verstauen und uns voll bepackt auf den Weg zum Busbahnhof machen. 6 Minuten. Müde drehe ich mich noch einmal um, versuche die wenigen Minuten die mir das Handy gewährt im warmen Bett zu genießen. Doch  wie immer vergeht die Snooze-Time gefühlt dreifach so schnell und der harsche Vibrationsalarm lässt mich nach dem Dösen unsanft zusammenzucken. Mit schweren Gliedern und immer noch schlaftrunken schiebe ich die Vorhänge zur Seite. Tokio ist nicht mehr weiß und schneebedeckt, der schwarze Asphalt glänzt nass in der noch tief stehenden Sonne und das Schmelzwasser prasselt in langen Perlenschnüren von den Dächern. Nur auf der kleinen Wiese im Innenhof direkt unter unserem Fenster ist eine dünne Schneeschicht liegengeblieben. So schnell der Schnee gestern kam, so schnell ist er nun auch wieder verschwunden. Schon beim packen stellen wir uns auf die nun schon so oft gefühlten Empfindungen des ständigen Weiterziehens ein. Auf dem Weg zum Bahnhof spüre ich, wie sich die Spannung aufs Ungewisse wie ein Schauer auf meine Haut legt. Aber auch Schwermut stellt sich ein, denn Tokio faszinierte uns, wie schon lange keine Stadt mehr. Gerne wären wir noch länger geblieben und noch tiefer in die vielen unterschiedlichen Viertel der Metropole eingetaucht. Doch das muss nun bis zu unserem nächsten Besuch warten. Als wir fast zwei Stunden später am Busbahnhof ankommen, sind wir mal wieder relativ knapp dran. Nervosität steigt in mir auf: „Wir dürfen den Bus auf keinen Fall verpassen!“ rufe ich Tobi zu und verfalle in den amüsanten Laufschritt, der mich bei anderen vollgepackten Backpackern sonst zum schmunzeln bringt. Angestrengt versuche ich auf den Schilder über uns den richtigen Bahnsteig zu finden, bis ich endlich auf die überdimensionierten Pfeile auf dem Boden aufmerksam werde, die in die Richtung der jeweiligen Plattformen deuten. „Bus Station“, da müssen wir hin! Als ich nach ein paar Minuten Powerwalking den Doppeldecker mit der Aufschrift OSAKA erblicke, entspanne ich mich. Wow, das scheint ein komplett anderes Reiseerlebnis zu werden, als das Nachtbus-Fiasko auf dem Hinweg: große, breite Sessel mit gepolsterten Armlehnen reihen sich mit viel Abstand zueinander durch die obere Etage. Der Bus ist fast leer (seltsam, auf deren Internetseite wurde er uns als komplett ausgebucht angezeigt), also lassen wir uns in die nächstbesten Sitze gleiten. Ich klappe die Lehne nach hinten und komme in eine annähernd liegende Position. Als ich den Hebel neben mir ziehe, klappt eine Fußstütze unterm Sitz hervor. Wie in Opas Ohrensessel, fehlt nur noch ein Conjäckchen und die Tagesschau. So lässt sich eine achtstündige Busfahrt definitiv aushalten. Die Skyline der Stadt, die wir so lieb gewonnen haben zieht langsam an uns vorbei, während ich mich in den 4. Band von Harry Potter vertiefe. Wir kommen nur langsam voran, selbst auf Japans Highways liegt die Höchstgeschwindigkeit oft nur bei (für deutsche Personentransportenthusiasten lachhafte) 80 km/h. Das gibt uns immerhin die Gelegenheit, die wunderbar melancholische Stimmung der vorüberziehenden Landschaften zu genießen. Wir fahren oft direkt am Meer entlang - nur die Leitplanke trennt uns von der schäumenden Brandung des Nordpazifiks. Ein paar Kurven später ragen dann ganz unwirklich die zahllosen Schornsteine geschäftiger Industriestädte in den Himmel. Und dann, wie aus dem Nichts taucht er vor uns auf - die schneebedeckte Spitze ragt in eine pilzförmige Wolkenformation, seine glatten Hänge scheinen wie auf den Horizont gemalt: Mount Fuji - Japans Wahrzeichen. Obwohl der Gipfel in Wolken getaucht ist, fasziniert uns sein Anblick und da wir wissen, dass dies wohl die vorerst letzte Möglichkeit für uns ist, den weltbekannten Berg mit eigenen Augen zu bestaunen, lassen wir die Kameras ganz bewusst aus und genießen einfach das klischeehafte Panorama aus dem Busfenster. Wie gerne würden wir den Aufstieg wagen, doch dies ist nur in den Sommermonaten erlaubt. Aufs Neue wird uns klar, dass wir sicherlich nicht das letze Mal im Land des Lächelns sind. 

Mit über einer Stunde Verspätung kommen wir in Osaka an. Es ist bereits Nacht und die Lichter der Stadt blitzen uns in der Dunkelheit herausfordernd entgegen. Vom Bus gehts direkt in den Hauptbahnhof und in den nächsten Zug Richtung Yao, einem Außenbezirk der Stadt, um unseren neuen Fahrbahren Untersatz abzuholen. Um das Land noch unabhängiger erkunden zu können, haben wir mit ViiTa Camper, einem kleinen Mietwagenverleih für Wohnmobile eine Medien-Kooperation vereinbart. So erhalten wir einen riesigen Camper zum halben Preis und stellen als Gegenleistung ein kleines Werbevideo für das Unternehmen her. Lange haben wir hin und her überlegt ob wir das Angebot annehmen sollen, denn mit fast 800 Euro Miete für zwei Wochen liegt selbst der reduzierte Preis weit über unserem üblichen Reisebudget. Wir waren mit einigen Firmen in Kontakt (auch mit den Branchengrößen), aber das beste Angebot kam dann doch vom winzigen Verleih mit gerade einmal 2 Fahrzeugen auf dem Parkplatz. Doch die Vorstellung mit dem eigenen Camper das winterliche Japan zu entdecken und dabei anhalten zu können, wo und wann man möchte, war einfach zu verlockend. Die viel zu hohe Investition in unsere neu gewonnene Reisefreiheit relativieren wir damit, durch den Camper die Übernachtungen in den teuren Hostels und den durch aufkommenden Zeitdruck nötigen Zugpass zu sparen, welcher für uns Beide zusammen fast genauso teuer gewesen wäre. 

Als wir an der kleinen Kyuhoji Station ankommen, wartet Sumi von ViiTa Camper bereits mit unserem kleinen japanischen Wohnmobil im Neonschein des angrenzenden Pendlerparkplatzes. Dank unserer Busverspätung hat er über eine Stunde auf uns gewartet, obwohl wir nicht vereinbart hatten, uns direkt am Bahnhof treffen. Für Sumi jedoch Ehrensache und (urjapanisch) ganz selbstverständlich uns persönlich abzuholen. Unser Ansprechpartner der Autovermietung ist ein stämmiger Mittdreißiger mit einem verschmitzten Lächeln, sympathischem Blick und schüchtern zurückhaltender Körpersprache. Was die Kommunikation jedoch erheblich erschwert, sind Sumis kaum vorhandene Englischkenntnisse (oder unsere nicht vorhandenen Japanischkenntnisse). Er fährt uns zunächst zu einem Parkplatz und zeigt uns ausführlich das Wohnmobil. Dabei liest er alles zeitlupenartig in gebrochenem Englisch aus der Gebrauchsanweisung des Fahrzeuges vor. Wenn er nach einem Wort sucht, wird die Sprechpause jedes Mal mit einem lang gezogenen „ettooooo“ eingeleitet, was auf japanisch so viel wie „ääähhh“ heißt. Am Ende zeigt er uns den Mietvertrag sowie die Versicherungspolice. Wir stutzen etwas, als wir die Selbstbeteiligung bei Unfallschaden in Höhe von umgerechnet 750 Euro sehen. Auf Nachfrage macht uns Sumi aber deutlich, dass es keine andere Versicherungsoption gibt und die Vollversicherung in Japan auch nicht möglich, oder üblich wäre. Normalerweise versuchen wir immer darauf zu achten, einen Mietwagen ohne Selbstbeteiligung zu buchen und geben dafür gerne auch ein paar Euro mehr aus. Naja, nun sitzen wir Nachts um halb 11 im Mietcamper nach einer gefühlten Stunde schleppender Wohnmobilkunde - was bleibt uns da anderes übrig, denken wir uns und unterschreiben den Vertrag. Wird schon schief gehen. Das Angebot, die erste Nacht auf dem Firmenparkplatz zu übernachten nehmen wir dankend an. Als wir endlich alleine in unserer Wohnung auf vier Rädern sind, schmeißen wir als aller erstes die Standheizung an und führen einen kleinen Freudentanz auf. Der Toyota ist geräumiger als man von außen meinen könnte und übertrifft unsere Erwartungen bei Weitem. Während sich die Wärme langsam im Fahrzeug ausbreitet, fangen wir an uns häuslich einzurichten. Nachdem wir die klirrende Kälte des winterlichen Japans beim trampen kennen gelernt haben, freuen wir uns riesig über den Luxus, auf einen Knopf drücken zu können und nach ein paar Minuten das Gefühl zu haben, den Pullover ausziehen zu müssen. Die Temperaturen draußen liegen schon wieder unter dem Gefrierpunkt und ich packe freudig unsere Schlafsäcke aus, die Standheizung kann ja nicht die ganze Nacht laufen. 

Die erste Nacht im Wohnmobil ist ziemlich kalt und wir wachen relativ früh auf. Wir machen das Beste daraus, kochen Kaffee und machen uns kurz darauf auf den Weg. Die ersten Meter im Linksverkehr auf den schmalen Straßen fühlen sich noch etwas ungewohnt an, aber Tobi meistert das neue Transportmittel hervorragend und schon bald befinden wir uns mitten im zähen Stadtverkehr von Osaka. Da wir keine japanische Sim-Karte besitzen (aus irgendwelchen Gründen ist es Touristen nicht erlaubt, eben jene zu erwerben) benutzen wir unsere Offline Karten im Handy als Navigationshilfe. Die App will uns aber ständig auf die Mautstraßen leiten und wir schaffen es einfach nicht die Einstellungen zu ändern. Auch das im Wohnmobil integrierte Navi ist keine große Hilfe - das japanische Menü ist alles andere als leicht zu verstehen und eine Sprachänderung scheint nicht möglich. Nach mehrmaligen Stops, U-Turns und Kampf mit der japanischen Elektronik geben wir uns geschlagen und steuern die nächste Autobahnauffahrt an, schließlich wollen wir heute noch in Himeji ankommen um mein vergessenes Handy abzuholen und das im besten Fall noch bevor das Café/Restaurant nachmittags wieder dicht macht. Sehr schnell kommen wir jedoch nicht voran, wie schon erwähnt ist selbst auf dem Highway die Höchstgeschwindigkeit oft 80 km/h und selbst dann fahren viele nicht schneller als 60. Und dann müssen wir für die kurze Zeit die wir auf der Autobahn verbracht haben fast 15 Euro Mautgebühren bezahlen. Als wir dann schon zum zweiten Mal an der beeindruckenden Burg Himejis vorbei gurken, beschließen wir das Navigationssystem des Fahrzeugs die nächsten Tage genau zu studieren. Irgendwie muss die Option „Mautstraßen vermeiden“ doch zu finden sein. 

Wie befürchtet ist es bereits relativ spät als wir an dem kleinen Café ankommen. Die Kundschaft ist wie die Chefin des Restaurants schon längst auf dem Heimweg. Bereit für den Feierabend hat der Koch schon eine unangezündete Zigarette zwischen den Fingern und die Bedienung schüttelt energisch den Kopf als wir eintreten. Natürlich spricht keiner der Beiden Englisch und wir sind mal wieder auf Zeichensprache angewiesen. Ich versuche der jetzt schon genervten Dame pantomimisch klar zu machen, dass wir hier nicht speisen wollen, sondern nur mein Handy abholen möchten. Mein Handzeichen, das international als Telefon verstanden werden sollte trifft auf absolutes Unverständnis. Tobis Handy-Akku ist leer, Google Translate fällt also auch flach. So war das also vor der Technikrevolution, ganz schön frustrierend… Der Versuch mit Hand und Fuß zu erklären, dass wir an JENEM (Fingerzeig) Tisch GEGESSEN (imaginäre Gabel zum Mund führen) haben und HIER (Fingerzeig) das HANDY (gespreizter Daumen und kleiner Finger am Ohr) liegen gelassen haben scheint die Dame nur weiter zu verärgern. Vor allem meine unglücklich gewählte „Ich esse gerade eure leckere Pasta“-Geste gibt ihr den Rest. Sie resigniert nun komplett, hält sich die Ohren zu bei jedem englischen Wort von uns und schwingt immer wilder ihre überkreuzten Armen in die Luft um den scheinbar begriffsstutzigsten Touristen der Welt klar zu machen, dass es hier nichts mehr zu Essen für sie gibt. Auch der Koch schaltet sich nun ein und unterstützt seine Kollegin solidarisch mit der gleichen abwehrenden Geste. Wow, solche Verständigungsprobleme hätten wir schon lange nicht mehr. Wir fühlen uns wie in einer japanischen Version eines Mister Bean Sketchs. Wo sind hier die Kameras versteckt?! 

Verzweifelt und ratlos schauen wir uns an. Nun sind wir so weit gekommen, das Handy liegt wahrscheinlich in irgendeiner Schublade hinter der Theke, aber ich habe das Gefühl die Bedienung springt mir gleich an den Kragen wenn ich es wage noch ein Wort an sie zu richten. Ich bin schon kurz davor aufzugeben, da nenne ich das Zauberwort, dass auf der ganzen Welt verstanden wird: „Smartphone!“. Zwar haben wir schon alles andere ausprobiert, von “phone”, “mobilephone”, “telephone”, sogar „iPhone“ haben wir probiert, bei dem Wort Smartphone scheint ihr jedoch plötzlich ein Licht aufzugehen. Die verkniffenen Brauen weichen großen Augen, sie hebt einen Finger in die Luft, dreht sich um und holt andächtig eine braune Papiertüte aus einer Schublade und streckt sie mir fragend entgegen. Darin befindet sich - Halleluja, mein Handy. Erleichtert fangen wir alle an zu lachen - das waren die kompliziertesten, frustrierendsten 10 Minuten Kommunikation unserer ganzen Reise. Auf dem Rückweg zum Wohnmobil können wir nicht aufhören, über die gerade durchlebte Absurdität zu lachen und entscheiden uns dazu, heute Abend mit einem Fläschchen Wein auf auf den erfolgreichen Tag anzustoßen. Wir entschließen uns für einen am Meer gelegenen, kostenfreien Rastplatz und decken uns im nächsten Supermarkt mit Proviant für die nächsten Tage ein. Als wir im Dunkeln am Spot ankommen, erwartet uns ein Strandparkplatz mit sauberen Toilettenhäuschen vor einer schmalen Grünfläche die direkt am Wasser liegt. Außer uns stehen nur zwei Motorräder am Rande des Parkplatzes und auf dem Rasen zwei kleine Zelte. Bei -5 Grad sind wir ausnahmsweise froh, nicht mit Ihnen tauschen zu müssen und lassen uns die Pasta mit selbst gemachter Tomatensoße doppelt gut schmecken. Der erste Reisetag im Wohnmobil geht zu Ende - wir sind gespannt was die nächsten 10 Tage für uns bereit halten. 

Als ich am nächsten Tag meinen Kopf aus dem Schlafsack strecke kann ich meinen warmen Atem in der kalten Morgenluft sehen. Ich schiebe das Rollo neben meinem Kopf einen Spalt hoch und spähe nach draußen: strahlender Sonnenschein, blauer Himmel und ein ordentlicher Küstenwind weht durch die Baumkronen. Die Morgenroutine der kommenden Tage zeichnet sich vor meinem inneren Auge ab, als ich mich aus dem Schlafsack quäle. In klirrender Kälte aus dem warmen Schlafsack kriechen, die dünnen Sprossen der Aluleiter hinuntersteigen, die Standheizung anschmeißen und während es langsam wärmer wird im Camper das Wasser für den Kaffee und das Birchermüsli kochen. Nach 15 Minuten ist der kleine Raum wohlig warm und mit Kaffeeduft und steigender Innentemperatur lässt sich auch Tobi aus dem Bett locken. Wir frühstücken mit Blick aufs Meer und schauen dem Motorradfahrer dabei zu wie er sein Zelt zusammenpackt. Es ist ein herrlicher Vormittag und die Sonne hat noch genügend Kraft um die kühle Meeresluft etwas aufzuwärmen. Den restlichen Kaffee trinken wir daher direkt am Strand und zum ersten Mal seit langem fühle ich so etwas wie Frühlingsstimmung aufkommen. Nach einigem Kopfzerbrechen schaffen wir es schließlich sogar das japanische Navi zu begreifen und auch wenn wir nicht verstehen was die nette Dame ständig dahin plappert, sind wir in der Lage ein Ziel sowie eine Route ohne Mautstraßen auszuwählen und die Karte zu lesen. Top, so kann es weiter gehen!

Von unserem Schlafplatz an der Südküste der mittleren Insel Japans machen wir uns auf den Weg Richtung Maizuru, ein kleines Küstenstädchen auf der Nordseite der Insel. Dafür müssen wir einmal quer durch die Bergkette der Präfektur Hyōgo fahren und nach kurzer Zeit verändert sich nicht nur die Landschaft sondern auch das Wetter. Schon bald fängt es an fürchterlich zu  schneien. Schon nach wenigen Minuten verwandeln sich die grünen Berghänge in weiße Schneewände und die Äste der Nadelbäumen am Straßenrand scheinen unter dem Gewicht stetig nach unten zu sinken. Wir fühlen uns beinahe wie im Schwarzwald und können kaum glauben, dass wir heute Vormittag noch am Strand saßen und unseren Kaffee in strahlendem Sonnenschein genossen haben. Die Schneelandschaft nimmt märchenhafte Züge an und wir genießen es mit unserem Wohnmobil bei guter Musik langsam durch die Berge zu rollen. Ein Ende des Schneefalls ist am späten Nachmittag jedoch immer noch nicht in Sicht - ganz im Gegenteil. Die Schneeflocken scheinen immer dicker zu werden und wir haben das Gefühl, das der graue Schleier im Himmel immer dichter wird. Wir sind nicht mehr weit entfernt von Maizuru, unserem Etappenziel, als es anfängt zu dämmern. Dadurch, dass wir die viel befahrenen Highways und Mautstraßen meiden, schieben wir uns nun mit maximal 20 km/h über meist ungeräumte schmale Landsträßchen. Ab und zu sieht man immerhin ein Streufahrzeug. Die Scheibenwischer gehen immer schneller und unsere Reifen drehen sich immer langsamer durch den Neuschnee. Kurz überlegen wir, ob wir einfach auf dem Parkplatz des nächsten Convenience Stores übernachten sollen.

Da es aber nur noch um die 30 Kilometer bis zum kostenlosen Stellplatz sind, entschließen wir uns dazu vorsichtig weiter zu fahren. Mittlerweile geht es nur noch im Schritttempo voran. Auf der Fahrbahn hat sich unter der dichten Schneedecke eine furchige Eisschicht mit tiefen Spurrillen gebildet. Vor uns kommen bereits die ersten Fahrzeuge ins rutschen. Wir halten übertrieben viel Abstand und rollen in Zeitlupe durch den komprimierten Schnee, aber auch wir kämpfen das ein oder andere Mal mit den Spurrillen. Zudem nimmt der Schneefall weiter zu und der Blick aus der Frontscheibe, gleicht eher dem Empfangsrauschen eines alten Röhrenfernsehers. Als wir eine Abzweigung auf eine Art Notfallhaltebucht nehmen um uns zu beraten, bleiben wir in knietiefem Schnee stecken. An dieser unübersichtlichen Stelle können wir nicht halten, aber wir sind uns einig: bei der nächstbesten Gelegenheit stoppen wir und sitzen den Schneesturm aus. Nach ein paar Wechsel zwischen Vorwärts- und Rückwärtsgang schaffen wir es dann wieder auf die Straße. Aus den Nachrichten erfahren wir später, das die ganze Region von der Stärke des Tiefs überrascht wurde, es gab einige Unfälle, Gebäudeschäden und umgestürzte Bäume. Ein paar Tage zuvor waren in Tokyo alle aus dem Häuschen wegen der paar Schneeflocken, nun sitzen wir aber nicht gemütlich in unserem Hotelzimmer, sondern hinterm Lenkrad und während sich meine Nägel bei jedem Gefälle angespannt in die Armlehnen krallen und ich übertrieben konzentriert auf die Straße starre, versucht Tobi das Wohnmobil im Schneckentempo sicher durch das Schneetreiben zu lenken. Ich kann mich nicht erinnern wann ich das letzte mal (oder jemals zuvor) bei solch einem Schneetreiben in einem Auto saß. Auch wenn bis Maizuru keine 10 Kilometer mehr fehlen, sind wir unendlich erleichtert, als wir einen großen beleuchteten Parkplatz am Rande des nächsten Dorfes erspähen. Hier ist es zwar eigentlich nicht erlaubt zu übernachten, aber unter diesen Umständen wird es uns bestimmt niemand krumm nehmen, den Camper ein paar Stunden abzustellen. Als wir endlich zum Stehen kommen und nicht mehr über die Straßen schlittern, springe ich aus dem Auto und lande bis zu den Knien in weichem Pulverschnee. Ja, es war eine gute Entscheidung hier anzuhalten! Zum Glück haben wir noch genug Vorräte, eine Standheizung, Strom und eine halbe Flasche Rotwein im Gepäck und so wird es irgendwo eingeschneit auf einem Parkplatz im ländlichen Japan ein richtig gemütlicher Abend.

Eher ungemütlich werden wir am nächsten Morgen durch lautes Klopfen an der Windschutzscheibe und die energischen Rufe eines städtischen Mitarbeiters geweckt. Ein Blick aus dem Fenster zeigt einen Traktor mit riesiger Schaufel der als  Räumfahrzeug fungiert. Der Parkplatz soll noch in den frühen Morgenstunden von den Schneemassen befreit werden und wir stehen im Weg. Verschlafen klettern wir aus dem Bett, ziehen uns an und fahren weiter ohne Frühstück, oder die morgendliche Katzenwäsche. Immerhin hat es aufgehört zu schneien und die Straßen wurden teilweise geräumt, somit sind es nur noch ein paar Minuten bis wir Maizuru erreichen. Der kostenfreie Stellplatz auf dem wir eigentlich übernachten wollten liegt ziemlich zentral in der Kleinstadt und hat neben sauberen Toiletten und einem Imbiss auch kostenfreies WLAN zu bieten. Es ist Samstag Vormittag und die große Fischhalle, gekennzeichnet durch eine gigantische rote Krabbe auf dem Dach, scheint ein beliebtes Ausflugsziel zu sein. Immer wieder halten große Reisebusse an und ein Schwarm von japanischen Touristen schwärmt ins Gebäude um die für die Region so bekannten frischen Meeresfrüchte zu erstehen. Wir holen erstmal unser Frühstück nach, während wir über die Karte gebeugt überlegen, wohin wir heute noch fahren sollen. Eigentlich haben wir bisher nur ein Ziel festgelegt: wir wollen zu den japanischen Schneemakaken die in den Bergen bei Nagano in den heißen Quellen baden. Bis dahin ist es aber noch ein gutes Stück und dazwischen gibt es doch bestimmt noch einiges zu sehen.

Als Tobi sich mit seiner Tasse Kaffee zurück lehnt fällt sein Blick auf die Windschutzscheibe und er fragt mich zögernd: „..war da schon immer ein Riss?“.Jetzt sehe ich es auch: mittig im unteren Drittel der Scheibe zieht sich ein ca. 15 cm langer Sprung durch das Glas. Unterhalb des Risses ist deutlich der Steinschlag zu erkennen. Vermutlich ist dies gestern Abend im dunkeln passiert als wir uns durch das Schneegestöber geschleppt haben. Die Reifen eines vorderen Fahrzeugs drehen durch und schleudern ein Schnee/Splittgemisch in unsere Richtung, oder ein Steinchen löst sich in voller Fahrt aus dem Reifenprofil eines Autos auf der Gegenfahrbahn. Hier lässt sich nur spekulieren. Es könnte sogar gut sein, dass der Riss sogar erst aus dem Steinschlag spross, als der Mitarbeiter vom Räumungsdienst heute morgen and die Scheibe gehämmert hat. Ich halte den Atem an „was sollen wir jetzt tun?“ frage ich nervös. In meinem Kopf male ich mir bereits die schlimmsten Szenarien aus mit enormen Reparaturkosten, Ärger mit dem Autoverleih und vorzeitigem Abbruch unseres Road Trips. Da der Riss zu groß ist um ihn einfach zu ignorieren schreiben wir zuerst eine Mail an ViiTa Camper. Prompt bekommen wir auch eine Antwort mit der Bitte an Ort und Stelle abzuwarten und der Info, dass die Scheibe auf jeden Fall repariert werden muss. Wir sitzen also erstmal vor dem Fischmarkt fest, natürlich am touristischsten Tag der Woche. Aus kleinen Lautsprechern hallt immer wieder das selbe Kinderlied und die monumentale Plastikkrabbe scheint schadenfroh auf uns hinabzublicken. Erst nachmittags meldet sich ViiTa Camper wieder mit einer Adresse für eine Werkstatt in Maizuru. Wir sollen dort hinfahren und uns nach Sichtung des Schadens bei Sumi melden, bevor etwas an der Scheibe gemacht wird. Je nach dem wie teuer und aufwändig die Reparatur wird, müssen wir zur Behebung des Schadens eventuell den ganzen Weg zurück nach Osaka fahren. Meine Laune ist im Keller. Die 750 Euro Selbstbeteiligung schwirren mir im Kopf herum. Wie teuer ist es wohl eine Scheibe von einem Wohnmobil auszutauschen? Lässt sich so etwas nicht verkleben? Und wie schnell geht so etwas? Als wir bei der Werkstatt ankommen ist es bereits kurz vor 4 und nach kurzem warten ist klar: heute geht gar nichts mehr. Kleben? Der Riss ist mittlerweile viel zu groß. Der Lieferant der Frontscheibe ist nicht mehr zu erreichen und so kann uns die Werkstatt erst am Montag einen Preis nennen. Niedergeschlagen vereinbaren wir mit ViiTa Camper die nächsten 2 Nächte in Maizuru zu campen und solange der Preis unterhalb der 750 Euro Selbstbeteiligung liegt, die Scheibe direkt vor Ort austauschen zu lassen um nicht noch mehr Reisetage zu verlieren. Falls es noch teurer werden sollte, müssen wir tatsächlich wieder nach Osaka, da wenn die Versicherung für die Mehrkosten einspringen muss nur die Vertragswerkstatt des Verleihs den Schaden reparieren darf. Mir ist zum Heulen zu Mute. Wir haben so lange geknobelt, ob und welchen Camper wir mieten sollen und nun verlieren wir wohl nicht nur einen geheuren Batzen Kohle, sondern auch noch kostbare Reisezeit. Wie immer in solchen Situationen bleibt Tobi ruhig und versucht mich aufzumuntern. Er kann einfach besser mit stressvollen und belastenden Situationen umgehen als ich. Sein Motto: es bringt nichts sich darüber zu ärgern und sich den Wind aus den Segeln nehmen zu lassen - wir müssen einfach lösungsorientiert an das Problem ran gehen. Immerhin meint der Mechaniker, wir können ruhig ein paar Kilometer fahren, nur nicht zu schnell. Zurück auf unserem Michi-no-Eki (so heißen hier die kostenlosen Stellplätze für Reisende) ist es inzwischen dunkel geworden, der Fischmarkt hat geschlossen, und die im Neonlicht strahlende große Krabbe wacht mit wirrem Blick über den fast leeren Parkplatz. Und ich versuche mich zu sammeln. Erst mal eine Nacht drüber schlafen...

Da wir hier nun mal fest stecken können, nutzen wir den Sonntag für einen ausgiebigen Erkundungsspaziergang durch Maizuru. Aus unserem ursprünglichen Plan eine Wanderung durch die umliegenden Berge zu machen, wird nun auf Grund der Schneemassen die immer noch die meisten Wege abseits der Hauptstraßen versperren leider nichts. Die Stimmung der Kleinstadt ist wunderbar gemütlich und wirkt beruhigend auf meine Nerven. Japan ist wirklich besonders in dieser Weise: die kleinen traditionellen Häuser und schmalen Straßen versprühen urtümliche Gemütlichkeit und die Menschen die uns begegnen sind freundlich und wirken in allem was sie tun besonnen und zufrieden. Die entspannte Stimmung eines japanischen Sonntagmorgens wird durch den Schnee noch verstärkt, alles wirkt ruhiger und noch gemütlicher.

Als wir durch die Sträßchen  schlendern unterhalten wir uns fast in Flüsterlautstärke. Wie immer versuche ich mir vorzustellen wie es ist sein könnte selbst zu wohnen; mit dem Fahrrad und gefülltem Einkaufskorb durch die engen Gassen zu fahren; mit einem Hund spazieren zu gehen. Ich liebe dieses Gedankenexperiment. Und hier in Japan, fühlt es sich immer unglaublich befriedigend an. Fast vergessen wir unsere Sorgen um das Wohnmobil. Zumindest bis wir Montag Vormittag wieder in der Werkstatt sitzen. Auch hier sind die Mitarbeiter fantastisch. Wir werden mit der klassischen, tiefen Verbeugung begrüßt, trotz keinerlei Englischkenntnisse freundlich und respektvoll behandelt und während wir auf die Kostenberechnung warten wird uns Kaffee angeboten. Nach einer guten Stunde im Show Room des Autohauses ist dann klar: der Austausch der Scheibe kostet so ziemlich genau 100.000 Yen, also ca 780 EUR und muss von uns komplett bezahlt werden. Die Scheibe kann morgen Nachmittag geliefert und noch am selben Tag eingebaut werden. Sumi erklärt uns schleppend und mit vielen „etooo“s, dass der Preis bei seiner Vertragswerkstatt ungefähr der gleiche wäre und so einigen wir uns darauf, alles hier vor Ort zu erledigen. Wow, 780 Euro ist eine Menge Geld für uns fahrendes Volk. Die 50% Rabatt, die wir durch die Produktion eines kleinen Werbevideos für ViiTa Camper ausgehandelt haben sind nun durch die Reparaturkosten für einen Schaden dahin, für den wir im Prinzip nichts können. Wir sind ja keinem rein gefahren, sondern ein winziges Steinchen kam von irgendwo her angeflogen, ohne das wir es merkten. Aber es hilft ja alles nichts und so versuche ich dennoch das positive zu sehen: spätestens Mittwoch können wir weiterfahren, uns ist kein Unfall oder irgendetwas Schlimmeres passiert und am Ende ist es nur Geld, nicht unsere Gesundheit. Ich merke wie mich solche Situationen nicht mehr so mitnehmen wie früher einmal. Klar habe ich mich am Samstag geärgert, aber nach einer Stunde merke ich dann doch schnell, dass es nichts bringt und da wir nun wissen wie und wann es weiter geht freue ich mich einfach darauf wieder weiter zu kommen. Um das Beste aus der Situation zu machen, entschließen wir uns dazu heute noch einen Ausflug zur Küste zu unternehmen und die Nacht direkt am Ozean zu verbringen. Wir haben gelesen, dass es dort sogar eine natürliche heiße Quelle geben soll und ich kann mir nichts cooleres vorstellen, als einen verschneiten ungemütlichen Abend in heißem Quellwasser mit Blick auf das stürmische Meer zu verbringen. Also verabreden wir uns mit der Werkstatt für den nächsten Nachmittag und fahren bei Sonnenschein an der Küste entlang. Unsere Laune steigt mit jedem Kilometer den wir voran kommen und der Blick aus dem Fenster auf die bewaldeten Berghänge die bis an die Ufer des japanischen Meer hinunter reichen lassen mein Herz höher schlagen. Der Schnee der letzten Tage ist auf den hiesigen Straßen schon wieder abgetaut und wir kommen wunderbar voran. Die Sonne scheint sich hier gegen die weißen Massen durchgesetzt zu haben, aber so soll es nicht bleiben. Schlagartig ändert sich die Farbe des Himmels, als wir über eine Bergkuppe überqueren: Graue, dichte Wolken lassen nichts Gutes hoffen und schon kleben die ersten Schneeflocken an der Windschutzscheibe. Ich kann es nicht fassen: wieder beginnt es wie verrückt zu schneien und abermals sind wir mitten drin in in dickem Schneegestöber.

Der Wind wird gewinnt deutlich an Kraft, als wir die Küste erreichen und die Brandung donnert schäumend an den weiß gesprenkelten Strand. Die Szenerie wirkt so unwirklich, so wunderschön und so mächtig zu gleich! Motivierter den je, die heißen Quellen zu finden, machen wir uns dick eingepackt trotz Schneegestöber und zugeschneitem Wanderpfad auf die Suche des Onsen (so nennt man die heißen Quellen Japans). Außer uns ist weit und breit niemand zu sehen und nach wenigen Minuten versinken wir erneut bis zu den Knien im Schnee und von der heißen Quelle ist weit und breit nichts zu sehen. Wahrscheinlich ist sie an einer ganz anderen Stelle oder der Weg dorthin ist durch den hohen Schnee gesperrt. Uns ist das mittlerweile aber egal, zu schön ist es hier direkt am Meer durch den meterdicken Schnee zu stapfen, das Meeresrauschen zu hören und dabei zuzusehen, wie die Flocken im tosenden Salzwasser schmelzen. Der Kontrast zwischen dem weißen Strand und dem tiefblauen Meer ist so faszinierend, die Kraft der Gewalten so beeindruckend, dass diese Schneewanderung zu einem Highlight der letzten Tage wird. Die ganze Nacht hindurch schneit es ununterbrochen und so legen wir am nächsten Morgen für den Rückweg nach Maizuru die Schneeketten an. Wie versprochen ist die Scheibe am Nachmittag eingetroffen und nach nur einer Stunde erstrahlt das Wohnmobil so, als ob nichts gewesen wäre. Ich könnte Luftsprünge machen: endlich geht es weiter! Wir füllen unsere Vorräte auf und machen den Tank voll, es sind nur noch 1-2 Stunden bevor es wieder dunkel wird, aber wir können diese fette rote Krabbe und ihren dauerbeschallten  Parkplatz nicht mehr sehen! Das nächste Ziel wartet schon auf uns und das Wetter ist dafür genau richtig: wir sind unterwegs zu den badenden Schneeaffen von Jigokudani. 

 

 

 

Hier könnt ihr euch schon mal die Montage des kompletten Road Trips ansehen!